Lernfunktion

Lernfunktion

Verhaltensrepertoire erweitern

Der Psychologe Philip Zimbardo setzt Lernen mit Verhaltensänderung gleich. Wenn eine Person ihr Verhalten verändert oder wenn sie ihr Verhaltensrepertoire erweitert, dann sind dies Indikatoren dafür, dass Lernprozesse stattgefunden haben (Vgl. u.a. Zimbardo 1992, S. 227). Mit dieser allgemein anerkannten Definition von Lernen wird klar, dass Lernen insbesondere als Entwicklungsprozess von Menschen verstanden wird. Individuen lernen. Ihre Lernprozesse spiegeln sich in beobachtbarem Verhalten wider.
Wenn wir von der ‚lernenden Organisation‘ sprechen und uns mit dem Lernen von Organisationen beschäftigen, so werden wir stets am Lernen der Mitarbeitenden und Führungskräfte ansetzen müssen. Zwar lassen sich Spuren des gemeinsamen Lernens in Organisationsstrukturen finden – zum Beispiel in veränderten Kulturen oder neuausgerichteten Strategien, doch müssen wir uns klarmachen, dass organisationales Lernen ohne das Lernen der einzelnen Mitglieder der Organisation nicht möglich ist.
Für Lernprozesse in Gruppen, Teams oder ganzen Organisationen ist individuelles Lernen also Voraussetzung. Eine Organisation als Ganzes lernt aber noch nicht, nur weil an der einen oder anderen Stelle eines seiner Mitglieder gelernt hat. Es müssen weitere Bedingungen erfüllt sein, damit die Lernerfolge Einzelner auch für eine Organisation nutzbar werden. Peter M. Senge hat in seinem Buch „Die fünfte Disziplin“ klar herausgearbeitet, welche Rahmenbedingungen erfüllt sein müssen und welche gemeinsamen Anstrengungen erforderlich sind, damit kollektives Lernen möglich wird. Darauf werde ich nachfolgend im Einzelnen eingehen. Das Ergebnis erfolgreichen Lernens in Organisationen kann unmittelbar aus Zimbardos Definition abgeleitet werden: Die Organisation verfügt über ein verändertes bzw. erweitertes Reaktions- und Gestaltungsrepertoire. Es resultiert aus dem Aggregat der weiterentwickelten Verhaltensrepertoires ihrer Mitglieder.
Die Lernfunktion verstehen wir als „Optimierungsmotor“ für die Nutzenfunktion. Durch sie sollen vorhandene Reaktionsmöglichkeiten optimiert und wirksam ergänzt werden: für höhere Effizienz und für mehr Kundennutzen.

Lernende Organisation

In Senges Konzeption sind die Reflexion eigener mentaler Modelle und die Entwicklung systemischen Denkens zwei grundlegende Disziplinen der „lernenden Organisation“. Erst ein verbessertes wechselseitiges Verstehen der Beweggründe des Verhaltens einzelner Personen trägt dazu bei, gemeinsame Reaktions- und Gestaltungsmuster zu verändern. Ich erinnere an die Managementaufgabe 2 (Reflektieren). In diesem Zusammenhang geht es hier nun darum, nicht nur über die Beweggründe der anderen, sondern auch über die eigenen individuellen Annahmen, Überzeugungen und tief verinnerlichten Erfahrungen (Mentalen Modelle) zu reflektieren. Sie beeinflussen das eigene Verhalten und die eigenen Entscheidungen (Managementaufgabe 4) maßgeblich. Das Denken in größeren, systemischen Zusammenhängen führt zu neuen, veränderten mentalen Modellen. Dort, wo bislang lineare, monokausale Zusammenhänge das Denken geprägt haben, hält mit der Zeit das vernetzte Denken in zirkulären Wirkzusammenhängen und Feedback-Loops Einzug. Das gemeinsame Reflektieren und die Ausrichtung auf ein systemisches Verständnis führen zu mehr Gleichklang in den mentalen Modellen der verschiedenen Mitarbeitenden und Führungskräfte. Auf diese Weise wird ein gemeinsamer Erkenntnis- und Verständnisrahmen gestaltet.
Bei Senge sind Fragen zum Teamlernen und zum Aufbau gemeinsamer Visionen zwei weitere Disziplinen der „lernenden Organisation“. Es handelt sich um Disziplinen, die nicht nur mit dem Austausch zwischen einzelnen Organisationsmitgliedern verbunden sind, sondern die tatsächlich auch nur in einer Gruppe bewerkstelligt werden können. Gemeinsam gilt es zu klären, wie man Dialoge gestalten, Diskussionen führen, Konflikte konstruktiv nutzen und gemeinsame Schlussfolgerungen ziehen will. Hier werden vor allem kulturelle Aspekte berührt, Fragen des Umgangs und des Klimas; Faktoren, die gemeinsames Lernen begünstigen sollen. Eine gemeinsame Vision gibt dem kollektiven Lernen Sinn und inhaltliche Richtung. Eine solche gemeinsame Vision muss mit der Organisationsidentität übereinstimmen. Im Idealfall ist sie aus ihr unmittelbar abgeleitet. Sie wird im täglichen Bemühen, Nutzen für Kunden zu stiften, konkretisiert.
Innerhalb unseres systemhealth-Modells sind damit klare Anforderungen an die Identitäts- und Nutzenfunktion beschrieben. Lernen verfolgt also keinen Selbstzweck und meint insbesondere nicht das eklektische Anhäufen von Wissen. Vielmehr dienen Lernprozesse und Lerneffekte zur besseren und immer wirksameren Gestaltung der Nutzenfunktion.
„Personal Mastery“ ist die letzte der fünf Senge-Disziplinen. Gemeint ist das persönliche Streben nach Professionalität und nach verantwortungsvollem Handeln. Es ist klar, warum diese Disziplin hilfreich und notwendig ist: Sie fokussiert nicht nur auf eine individuelle Lernbereitschaft, sondern auch auf den Drang zur Weiterentwicklung und auf eine Offenheit zur Diskussion und Reflexion. Ich verstehe und interpretiere diese Disziplin als Bereitschaft, die von mir skizzierten vier Managementaufgaben verantwortungsvoll ernst- und wahrnehmen und ihre Anwendung durch Reflexion und Übung stetig zu verbessern.

Optimierung

In meinem Ausführungen zur Managementaufgabe 2 hatte ich die Reflexion als Grundlage und Voraussetzung für individuelles und organisationales Lernen beschrieben und dabei zwei Richtungen unterschieden: „Verbessern“ und „Erneuern“. Die Lernfunktion fokussiert im systemhealth-Modell auf die Aspekte der Verbesserung und Optimierung des Bestehenden. Weitergehende Erneuerungsaspekte haben für die langfristige Lebensfähigkeit von Organisationen eine so große Bedeutung, dass sie in einer eigenen Managementfunktion – der Erneuerungsfunktion – herausgestellt werden müssen.
Bruce Doolin Henderson (Gründer der Bosten Consulting Group) entwickelte und veröffentlichte in den 1960er Jahren die Lern- und Erfahrungskurve. Sie besagt, dass Unternehmen 20-30% Einsparungspotenzial bei doppelter kumulierter Ausbringungsmenge eines Produktes oder einer Dienstleistung haben. Er stützte sich dabei auf Ergebnisse der Grundlagenforschung und auf seine umfassende Expertise in der Strategieberatung von Unternehmen. Diese wichtige Erkenntnis wurde oft falsch verstanden und als Automatismus interpretiert: „Mache etwas doppelt so oft wie bisher und Du benötigst dafür insgesamt 20-30% weniger Ressourcen“.

Bezogen auf unsere Lernfunktion gibt Henderson den entscheidenden Hinweis darauf, was wichtig ist, um Lernpotentiale in Organisationen zu heben: Stabile Routinen sind es (das, was ich oft mache), die uns aus Erfahrung lernen lassen und die das Optimierungspotenzial (von 20-30%) in sich tragen. Dies hier herauszustellen, scheint angesichts des allgegenwärtigen Aktionismus und bei aller Hektik und Steuerungswut heutiger Führungskräfte besonders notwendig zu sein. Lern- und Verbesserungsprozesse einer Organisation gründen in ihren Routinen – aber nicht in ständig wechselnden modischen Konzepten und Methoden!
Lerneffekte verbessern nach diesem Verständnis den Ressourceneinsatz oder – anders gesagt – die Kosten-Nutzen-Relation. Durch solche Optimierungsbemühungen steigt der „Eigennutzen“ der Organisation (Nutzenfunktion). Ihre Substanz wird gestärkt.

Zum Lernen „Motivieren“

Bedeutet die Lernfunktion als Managementfunktion, dass Führungskräfte Mitarbeitende zum persönlichen Lernen motivieren müssen? Wie kann man als Führungskraft individuelles Lernen als Grundlage der Lernfunktion sicherstellen?
Obwohl in den meisten populärwissenschaftlichen Motivationsbüchern Methoden zur Mitarbeitermotivation angepriesen werden, wissen wir heute doch eigentlich sehr genau, dass niemand wirklich durch einen anderen motiviert werden kann. Versuchen wir, jemanden für etwas zu gewinnen oder sich in einer ganz bestimmten Art und Weise zu verhalten, dann besteht die Gefahr, dass er darauf abweisend reagiert. Psychologen nennen diesen Effekt „Reaktanz“ (Vgl. Pantalon (2015): Motivation, S. 32). Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Person einem Wunsch, einer Bitte oder gar einer Anweisung folgt, sinkt sogar dann, wenn sie selbst beabsichtigt hatte, genau dies zu tun. Auch ist klar belegt, dass jede Form der extrinsischen Motivation (Lob, Bonuszahlung, etc.) die intrinsische Motivation einer Person für ein bestimmtes Verhalten schwächt. Motivationsbemühungen von Führungskräften erreichen deshalb oft das Gegenteil: sie demotivieren. (Vgl. Sprenger (2014): Mythos Motivation, S. 71 ff.). Was bedeutet dies für die Lernfunktion?
Mitarbeitende und Führungskräfte müssen ‘das eigene Warum‘ für sich selbst finden und beantworten. „Jeder besitzt bereits ausreichend Motivation“, erklärt Michael V. Pantalon in seinem oben genannten Buch. Auftrag von Führungskräften ist deshalb, demotivierende und dem Lernen entgegenstehende Ablenkungen und Störfaktoren zu reduzieren oder – wenn möglich – gleich ganz zu eliminieren. ‘Das eigene Warum‘ ist der Vorteil, der persönliche Nutzen, den eine Person durch das Lernen für sich zieht. Dieser Nutzen resultiert aus Dialogen, Diskussionen und auch aus Konflikten mit Kollegen, Mitarbeitenden und Führungskräften. Ein Ansatzpunkt bietet sich uns als Vorgesetze: Wir können unterstützen, dass Mitarbeitende ihr ‘Warum‘ – und sei es noch so klein – entdecken (Bei Pantalon finden sich dazu einige hilfreiche Ideen).
Aus systemischer Perspektive stellt sich die Frage, ob durch die Gestaltung und Entwicklung von Systemen das individuelle Erkennen des Warums gefördert werden kann. Da ist zum einen auf die Wirkmächtigkeit der (bereits dargestellten) Identitätsfunktion zu verweisen. Zum anderen sollte eine Organisation so gestaltet werden, dass möglichst viele darin tätige Menschen das Feedback des Marktes (und damit des Kunden) ganz unmittelbar zu spüren bekommen (Vgl. Sprenger: Das anständige Unternehmen, S. 192). Ist dies gewährleistet, werden Mitarbeitende durch dieses Feedback Lernbedarfe und –Chancen eigenständig erkennen. Es steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sie auch das ‘eigene Warum‘ erkennen werden. Meine eigene langjährige Führungserfahrung bestätigt mir dies. Ich habe zahlreiche Beispiele im Kopf, bei denen Führungskräfte durch ein direktes Kunden-Feedback Schlussfolgerungen für sich selbst gezogen haben und Veränderungen motiviert angegangen sind. Sie waren dann engagierter und erfolgreicher bei der Sache als in den Fällen, in denen ich mich als Geschäftsführer darum bemüht habe, meine Schlussfolgerungen an sie weiterzugeben, um damit bei ihnen für eine Verhaltensänderung zu werben.

Ein Hinweis zum Schluss:

Es darf nicht unerwähnt bleiben, dass übertriebene Optimierungsbemühungen in eine Effizienzfalle führen. Ein effizienter Ressourceneinsatz ist nicht unendlich zu optimieren, und es gibt einen Punkt, an dem weitere Effizienzbemühungen wieder zu Verschlechterungen führen. Dann steigen beispielsweise Fehlzeiten bei Mitarbeitenden, gehen wertvolle Puffer und Reserven verloren, die den Betrieb bislang in Krisen und Notsituationen abgesichert haben, oder ist eine ausreichende Abstimmung und Kommunikation nicht mehr gewährleistet. Diese Grenzen dürfen Führungskräften allerdings nicht als Ausrede dienen, sich Lern- und Effizienzthemen und den damit zwangsläufig verbundenen Konflikten nicht zu stellen. Lernen ist wichtig, um die Substanz zu stärken, neue Initiativen zu ermöglichen und langfristig das Überleben zu sichern. Und die im nächsten Beitrag vorgestellte Erneuerungsfunktion wird zeigen, dass es immer wieder neue Routinen auszubilden gilt. Es gibt also keine Alternative: gesunde Unternehmen sind auf Lernen angewiesen!

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